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Leserzuschrift an DIE ZEIT

„Die Schlacht am Rubikon - Wird alles gut? Für einen Fortschritt nach menschlichem Maß.
Zu Diskussionen um die Berliner Rede des Bundespräsidenten Johannes Rau“

Einige Persönlichkeiten der Politik, Wirtschaft und Kirchen haben in offiziellen Stellungnahmen die Berliner Rede des Bundespräsidenten Johannes Rau als brillant und aufsehenerregend bezeichnet. Ein solches Echo zu dieser Rede war bisher in den Medien nicht zu vernehmen. Sie erhielt nur von wenigen den Platz einer Spitzenmeldung oder auf dem Titelblatt. Für eine ausführliche Berichterstattung und Kommentierung wurde noch weniger Raum und Zeit zur Verfügung gestellt.

 

Gemein ist aber allen eins: Die Berliner Rede lediglich als eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen Diskussionen um Chancen und Risiken der Lebenswissenschaften im Allgemeinen und der gentechnischen Forschung im Besonderen verstehen zu wollen.

 

Anerkennung verdient wohl nur Sabine Christiansen, die sich unmittelbar nach dieser Rede redlich mühte, mit den Gästen ihrer Talkshow (20.05.2001) das Wesen der kritischen Hinweise des Bundespräsidenten zu verdeutlichen. Auch wenn ihr das mit ihren Gästen kaum gelang, so hat sie doch mit ihrer Talkshow den Zuschauern die Bedeutung dieser Berliner Rede vermittelt.

 

Gunter Hofmanns analytischer Kommentar „Die Schlacht am Rubikon“ (DIE ZEIT Nr. 22 vom 23.Mai 2001) ragt ebenfalls heraus aus dem allgemeinen Niveau der Medienprodukte zur Berliner Rede. Doch er kam wohl auch nicht umhin, dem Zeitgeist oder besser dem GESCHÄFTS-Geist folgend, in der Berliner Rede ebenfalls das Wesentliche in der kritischen Auseinandersetzung „um Biomedizin“ sehen zu können und zu kommentieren. Er hielt es aber wenigsten für würdig zu fragen, „weshalb sich derart viel Leidenschaft den Fragen der Biomedizin widmet, während Politik sonst Hunger, Völkermord und andere Tragödien auf ganzen Kontinenten großzügig ignoriert“.

 

Inzwischen ist die Berliner Rede des Bundespräsidenten von den Diskussionen um die Präimplantationsdiagnostik (PID) in den Hintergrund gedrängt worden. Allenfalls gilt sie noch als Auslöser dieser Diskussionen.

 

Aber, haben dem Bundespräsidenten tatsächlich nur die Chancen und Risiken der gentechnischen Forschung angeregt zu fragen, ob alles gut wird? Sind es tatsächlich vor allem oder allein die möglichen Ergebnisse der gentechnischen Forschung oder der Biomedizin, die alles in Frage stellen und den Zweifel hervorrufen, ob alles gut gehen wird? Ist nur deshalb und erst damit ein kritischer Hinweis auf Einhaltung der Grenzen des Erlaubten zu geben? Oder will man gar dem Bundespräsidenten vorwerfen, er habe in seiner Berliner Rede ja auch nicht vor den Gefahren gewarnt, welche mit der Umweltzerstörung oder mit der Forschung und ihren möglichen Ergebnissen auf anderen Gebieten für die Menschheit bereits entstanden sind?

 

Jene, die jetzt beklagen, der Bundespräsident hätte mit seiner Rede auch keine Klärung zu den Fortschrittsproblemen herbeigeführt, sollten ihm für die Möglichkeit danken, die in dieser Rede genannten Probleme wenigstens als Probleme der gentechnischen Forschung interpretieren zu können. Das wäre dann zwar keine edle, aber eine lautere Haltung, und Hofmann brauchte dann auch nicht zu klagen: “So viel Fraktionierung, so wenig Offenheit“.

 

Nein, es geht nicht allein oder vordergründig um Probleme der Lebenswissenschaften, der Biomedizin, der gentechnischen Forschung oder der Präimplantationsdiagnostik, wenn um das menschliche Maß und um die Einhaltung der Grenzen des Erlaubten zu ringen ist. Die den Lebenswissenschaften zugeordneten Fortschrittsprobleme sind bereits Folgen der Nichtbeachtung menschlichen Maßes auf vielen Gebieten. Sie sind ein weiteres Warnzeichen eines allgemeinen Entwicklungstrends zur generellen Überschreitung der Grenzen des Erlaubten. Der erreichte Fortschritt in der gentechnischen Forschung und in der Biomedizin insgesamt veranlasst berechtigt, vor den Gefahren der Menschheitsentwicklung und vor den „falschen Propheten“ zu warnen. Doch das berechtigt nicht, deshalb keinen Anlass zu sehen, vor allen anderen Gefahren für die Menschheitsentwicklung zu warnen, die Fortschrittsprobleme insgesamt und auf vielen Gebieten mit sich bringen.

 

Die Beachtung des menschlichen Maßes fordert natürlich zum Kampf mit seinem Widerspruch heraus. Einerseits glauben viele Menschen an die Unumstößlichkeit des menschlichen Maßes und kämpfen täglich dafür. Andererseits müssen sie aber auch immer wieder erfahren, dass das Verständnis von einem menschlichen Maß und vor allem, dass seine Beachtung oft der Beliebigkeit menschlicher Interessen unterworfen ist.

 

Auch Hofmann kann keinen Nachweis führen, dass der Rubikon nicht längst überschritten ist, der Fortschritt, was allgemein darunter verstanden wird, nicht schon bereits mit der Beseitigung der seinen Verwertungsbereich noch eingrenzenden Hindernisse begonnen hat. Ja, es wäre tatsächlich schon viel, wie Hofmann weiter feststellt, „wenn die Einsicht sich durchsetzte, dass Biomedizin hier das falsche Sujet ist“.

 

Die Fragen zum menschlichen Maß und seiner Beachtung, die Fragen zur Einhaltung der Grenzen des Erlaubten verlangen eben nicht erst jetzt wegen der möglichen Gefahren aus der Anwendung der Präimplantationsdiagnostik Antworten. Es bereitet offensichtlich Schwierigkeiten, ohne Bezug auf die PID diese Fragen überhaupt zu stellen und dann auch richtig zu beantworten. Unmöglich ist das aber nicht.

 

Den Schwierigkeiten entkommt man dadurch nicht, sondern ist ihnen eher noch mehr ausgesetzt, wenn die Fortschrittsprobleme nur als Probleme der Präimplantationsdiagnostik interpretiert werden, wenn jeder davon ausgehen will, dass die anderen das gleiche Verständnis von einem menschlichen Maß besitzen und wenn Ethik und nicht der Ethos der Menschen die Grenzen des Erlaubten bestimmen sollen. Das menschliche Maß bleibt in jeder seiner konkreten Anwendung einer beliebigen Deutung und einem beliebigen Verständnis offen, wenn es nicht konkret für alle seine Anwendungen gleichermaßen verstanden und die Lage der Grenzen des Erlaubten nicht verschieden interpretiert werden kann. Es hat sich doch wohl als untauglich erwiesen, sich den Schwierigkeiten der Benennung des menschlichen Maßes nicht stellen zu wollen, weil darin die Gefahr einer ideologischen Verdichtung bestünde, oder sich ihnen wegen der angeblich bereits allgemein anerkannten Wertvorstellungen nicht stellen zu müssen. Doch allein Abweichungen einzelner von diesen angeblich allgemein anerkannten Wertvorstellungen können wohl nicht dringen-de Warnungen vor Fortschrittsgefahren für die Menschheit begründen. Diese berechtigten Warnungen stellen also selbst diese allgemeine Anerkennung von Wertvorstellung in Frage.

 

Der Konflikt um das Verständnis zum menschlichen Maß wird nicht nur interessant, wie Hofmann meint, wo Respekt vor anderen Maßstäben gegenüber gezollt wird, sondern bereits dann, wenn um die konkrete Benennung des menschlichen Maßes und für seine heutige, die Zukunft der Menschheit sichernde Beachtung gerungen wird. Ein Ethik-Rat soll für eine Beendigung des Konflikts um die Einhaltung des menschlichen Maßes bei der Präimplantationsdiagnostik sorgen. Ob sie dabei, wie die Frankfurter Börse der New Yorker Börse, den Vorgaben des amerikanischen Marktes auf diesem Gebiet mit seiner Interpretation, wie Eugenik verstanden und verwertet werden kann, folgt?

 

So wie damals gibt es auch heute keine Schlacht am Rubikon. Aber Hofmanns Vergleich mit dem historischen Ereignis im Jahr 49 vor Chr. ist hier durchaus angebracht. Caesar, nur seinen Interessen folgend, missachtete bewusst ein konkretes Verbot derer, die der Verwirklichung seiner Interessen im Wege standen. Er überschritt die konkrete Grenze des Erlaubten, den Fluss Rubikon und handelte so gegen die Interessen der Verbotsgeber. Handeln Forscher der Lebenswissenschaften nicht aber vor allem im Interesse der durch Krankheit und Behinderung lebensbeeinträchtigten Menschen, wenn sie nach Lösungen zur Abhilfe oder Vermeidung dieser Krankheiten und Behinderungen forschen? Was ist hier der Rubikon und wer will konkret festlegen, welche Abhilfe oder Vermeidung von Krankheiten und Behinderung eine Überschreitung des Erlaubten bedeutet und deshalb nicht anzuwenden ist? Und zu welchen anderen Interessen grenzt hier der Rubikon ab?

 

Zu ihrer Entwicklung hat die Menschheit schon immer „mitgespielt“. Alles was Menschen dabei in Gang gesetzt haben, war wohl stets vom guten Glauben begleitet, damit auch etwas für den Fortschritt der Menschheit zu leisten. Wäre es immer ein Fortschritt nach menschlichem Maß gewesen, für die Warnung des Bundespräsidenten vor Menschen, welche „Entwicklungen in Gang setzen, deren Folgen weder überschaut noch beherrscht werden“, gebe es keine überzeugende Begründung. Die Warnung aber vor einem bedingungslosen Fortschrittsglauben, vor einem Glauben an eine Entwicklung, welche angeblich immer dem weiteren Fortschritt der Menschheit diene und nicht mögliche Gefahren ihres Untergangs zur Folge haben könne, eine solche Warnung ist bereits mit den vielen Anzeichen solcher Gefahren aus der jüngsten Menschheitsentwicklung begründet. Wer hat diese Entwicklung zu verantworten, oder ist sie einfach das Schicksal der Menschheit? Eifrigen Diskussionen um das „falsche Sujet“ Präimplantationsdiagnostik hinterlassen den Eindruck, lediglich einige gentechnischen Forscher gefährden mit den Risiken ihrer Forschung die Entwicklung der Menschheit. Jene Diskutanten können deshalb die Aufforderung des Bundespräsidenten an den demokratischen Rechtsstaat begrüßen, nicht der Wissenschaft zu überlassen, was gemacht werden soll. Aber, ist auch hier zu fragen, hat denn der demokratische Rechtsstaat auf diesem Gebiet versagt und ist deshalb die eindringliche Warnung vor den Gefahren der Menschheitsentwicklung jetzt erforderlich geworden? Befindet sich gar der demokratische Rechtsstaat in Widerspruch oder soll er sich darin begeben zu Entscheidungen der demokratisch gewählten Volksvertreter, mit denen sie Grundlagen und Rahmenbedingungen für das Fortschreiten der Menschheitsentwicklung geben wollen, was dann (von wem?) nicht als nach menschlichem Maß beurteilt werden könnte? Ist es nicht eine gefährliche Ideologie, die Entscheidung demokratisch gewählter Volksvertreter legitimiere sie stets als Entscheidung nach menschlichem Maß?

 

Die Redner in der Bundestagsdebatte (31.Mai 2001) um die Chancen und Risiken der Lebenswissenschaften und insbesondere der Präimplantationsdiagnostik haben sich ausgesprochen, im Konsens eine Entscheidung zur Umsetzung der Aufforderung des Bundespräsidenten zu finden. Konsens erreicht und wer verantwortet, dass bis dahin möglicherweise die Gefahren weiter Gestalt annehmen, irreparable Wirkungen hinterlassen? Gibt der dann erreichte Konsens nur den Glauben oder auch die Gewissheit, mit den so getroffenen Entscheidungen Gefahren abwenden zu können und Warnung davor überflüssig zu machen? Und wenn die Überzeugung darin besteht, mit einer solchen Entscheidung die Risiken gentechnischer Forschung so beherrschen zu können, dass ihre Ergebnisse menschlichem Maß entsprechen werden, dass die gentechnische Forschung nur diesseits des Rubikons forscht, warum nicht gleich eine solche Entscheidung, die alle Überschreitungen des Erlaubten verhindern könnte?

 

Nein, die Diskussionen über die Berliner Rede des Bundespräsidenten sind keine Schlacht am Rubikon und auch kein Streit darum, welche Grenze des Erlaubten konkret gelten soll. Allenfalls, den Marktanforderungen folgend, werden konkrete Rechtsgrundlagen geschaffen, welche die Präimplantationsdiagnostik handelbar macht.

 

Die von der Berliner Rede des Bundespräsidenten ausgelösten Diskussion sind geprägt vom Unbehagen und von der Angst vor einer Änderung des heutigen Verständnisses von der Menschheit und ihrer Entwicklung. Ist diese Angst nur natürlich verursacht durch Unwissenheit oder vielmehr begründet mit dem Wissen von den zwangsläufigen Folgen der heutigen Menschheitsentwicklung? Ganz gleich wie, sie bestätigen damit, ungewollt dem Bundespräsidenten, dass auch sie zu jenen gezählt werden könnten, die Entwicklungen in Gang gesetzt haben und setzen, deren Folgen sie weder überschauen noch beherrschen.

 

Man möchte dem Bundespräsidenten zurufen: Noch etwas mehr Mut! Mut zur Aufforderung, diese Angst zu überwinden. Entweder dadurch, ausreichend Wissen für die Zusammenhänge der Menschheitsentwicklung und die Ursachen ihrer Folgen anzueignen. Oder das Wissen von der Zwangsläufigkeit der Folgen der jetzigen Entwicklung nicht als hinzunehmendes Schicksal, sondern als Ergebnis menschlicher Tätigkeit zu verstehen, die auch hin zur Einhaltung der Grenzen des Erlaubten beeinflusst werden kann. Fordern Sie Politik und Wissenschaft auf, gemeinsam die Verantwortung für die Einhaltung menschlichen Maßes zu tragen. Dabei muss die Politik selbst insgesamt und nicht nur in einzelnen Politbereichen den Anforderungen wissenschaftlichen Standards genügen, damit auch die Wissenschaft Ergebnisse mit gewollten politischen Folgen hervorbringt. Und fordern Sie die Medien auf, in ihren Berichten, Analysen und Kommentaren allgemein bewusst werden zu lassen, dass nicht nur die gentechnische Forschung, sondern die gesamte jetzige Entwicklung zwar Angst vor deren Folgen bereiten kann, aber die Ursachen für diese Angst erkannt und deshalb überwunden werden können.

 

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