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Brief an: Professor Dr. Johannes Rohbeck

Betreff: Geschichtsphilosophie heute

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Rohbeck,

 

mit viel Freude habe ich Ihre Vorlesungen zur Geschichtsphilosophie besucht. Sie waren informativ, kurzweilig und haben sicher viele Hörerinnen und Hörer zum Denken angeregt.

 

Um mich für das Vorlesungsthema „einzuschreiben“, habe ich keine Feuerzangenbowle benötigt. Ihr Thema Geschichtsphilosophie heute ist sowohl für die jüngeren, wie zum Glück festgestellt werden konnte, als auch für die älteren (immer noch) von großem Interesse.

 

Etwas bedauere ich, dass es keine Seminare dazu gibt. Es wäre ebenso interessant festzustellen, welche Gedanken Ihre Vorlesungen ausgelöst haben und wie diese die Geschichtsphilosophie bereichern kann.

 

Nehmen Sie bitte meinen beiliegenden Standpunkt zu Geschichtsphilosophie wie eine geschriebene Klausur.

 

Mit freundlichen Grüßen

 

Ihr Bürger-Student

 

 

Kritik zu seiner „Geschichtsphilosophie heute“

Zur Geschichtsphilosophie

Im sprachlichen Umgang ist das Wort Geschichtsphilosophie allgemein mit dem Verständnis besetzt, es bezeichnet eine philosophische Disziplin, deren Gegenstand und Ergebnisse Auffassungen sind, was als Geschichte und wie Geschichte zu verstehen sei. In diesem allgemeinen Verständnis sind Geschichte und Philosophie keine unbekannten Worte, sie sind jeweils mit einem bestimmten Verständnis besetzt. Im sprachlichen Umgang mit Geschichtsphilosophie kommt zum Ausdruck, dass die Worte Geschichte und Philosophie allgemein mit einem bestimmten Verständnis besetzt sind und sein müssen, wenn das Wort Geschichtsphilosophie verwendet wird.

 

Doch selbst wenn im sprachlichen Umgang die Worte Geschichte und Philosophie allgemein mit einem bestimmten Verständnis besetzt sind, bleibt das Wort Geschichtsphilosophie selbst fragwürdig, was mit ihm zum Ausdruck gebracht wird. Denn: Entweder wird das Wort Geschichte als Bezeichnung für eine feststellbare und festgestellte Wirklichkeit verstanden, dann braucht es dazu keine Philosophie zu klären, was Geschichte ist, was mit dem Wort Geschichte zu verstehen ist. Oder das Wort Geschichte gilt als Bezeichnung für Auffassungen (Ausdruck eines Bewusstseinsinhalts, Gedankenkonstrukte) zu einer nicht feststellbaren Wirklichkeit, zu einer nicht festgestellten Wirklichkeit, was die Suche nach der Wahrheit dieser Auffassungen, was das Philosophieren darüber begründete. Für Geschichtsphilosophie bliebe dann als wissenschaftlichen Gegenstand das Denken über Auffassungen zur Geschichte. Das (Vorlesungs-)Thema über die Geschichte der Geschichtsphilosophie hieße dann zutreffender Geschichtsphilosophien.

 

Will also Geschichtsphilosophie als Wissenschaft verstanden werden, muss sie zunächst klar zum Ausdruck bringen, dass ihr Gegenstand das Denken über und die Auffassungen zu zeitlichen Abläufen* sind, die als Geschichte bezeichnet werden. Auch über jene Auffassungen, zufolge deren Geschichte gerade deshalb Gegenstand philosophischer Betrachtungen war und ist, weil die Wirklichkeit des zeitlich Vergangenen in der Gegenwart nicht feststellbar sei, weil alle Überlieferungen von zeitlich Vergangenem bloße Auffassungen (Gedankenkonstrukte) sind, für die es keinen Nachweis gibt, ob sie der (vergangenen) Wirklichkeit entsprechen oder nicht.

 

Gegenstand der Geschichtsphilosophie wären also Auffassungen und Geschichten von Auffassungen zu zeitlichen Abläufen, die als Geschichte bezeichnet worden sind und werden. Gegenstand wären nicht feststellbare und festgestellte Wirklichkeiten zeitlicher Abläufe. Und Geschichtsphilosophie hätte ebenso wenig als wissenschaftlichen Gegenstand, wie Geschichte zu verstehen sei, sondern wiederum nur, welche Auffassungen es dazu gibt. Mit dieser Klärung bereitete dann der sprachliche Umgang mit Geschichtsphilosophie keine Schwierigkeiten.

 

Aber natürlich kommen diese Schwierigkeiten gewissermaßen durch die Hintertür in den Diskurs-Raum zurück, wenn zum Beispiel die Geschichtsphilosophie Fortschrittsidee oder die Kritik an ihr als Ausdruck feststellbarer und festgestellter Wirklichkeit von Entwicklungen darstellt und sich nicht darauf beschränkt, Auffassungen dazu zu „bearbeiten“. . Geschichte und Fortschritt gibt es objektiv nicht. Es sind Worte für Bezeichnungen entweder für feststellbare und festgestellte Wirklichkeit oder für Auffassungen zu Fortschritt und zur Kritik an der Idee des Fortschritts, für Gedankenkonstrukte dazu. Denn wie das Wort Geschichte hat auch das Wort Fortschritt im Deutschen unterschiedliche Bedeutung. Einmal im Sinne des Fortschreitens (zeitliche, räumliche, quantitative, qualitative Veränderung) – Bewegung allgemein - und zum anderen im Sinne dieser so genannten Vervollkommnung, Perfektionierung.

 

* darin einbezogen sind auch jene Auffassungen über die Möglichkeiten des Erkennens und Verstehens vergangener zeitlicher Abläufe Ein wissenschaftlicher sprachlicher Umgang mit dem Wort Fortschritt erfordert also ebenso, das Wort Fortschritt nicht einem beliebigen Verständnis zu überlassen und in der Geschichtsphilosophie als Bezeichnung von Auffassungen zu benennen. Und Geschichtsphilosophie sollte ebenso als Auffassungen benennen, denen zufolge Geschichte wie ein Subjekt Eigenschaften besitze. Also auch, dass es Auffassungen sind, alles, was mit dem Wort Geschichte bezeichnet wird, habe einen bestimmten Sinn, folge einem bestimmten Ziel, einer bestimmten Richtung. Und Geschichtsphilosophie sollte zum Gegenstand haben, warum, diesen Auffassungen zufolge, das als Geschichte zu verstehen sei, warum über und zur Geschichte philosophiert werden müsse. Die Beantwortung dieser Fragen durch die Geschichtsphilosophie verlieh ihr als Wissenschaft eine kritische Dimension.

 

Doch immerhin: Mit einer Klärung ihres wissenschaftlichen Gegenstandes ginge Geschichtsphilosophie auch von dem Verständnis aus, dass zeitlich vergangene Abläufe wirklich existierten und demzufolge ihre Wirklichkeit zumindest feststellbar war, und zwar auch ohne Philosophien. Was wirklich existierte und wie es zu erkennen ist, das allerdings bliebe nach dieser Klärung Gegenstand der Wissenschaft Geschichte.

 

Wird die Wirklichkeit zeitlicher Abläufe mit dem Wort Geschichte bezeichnet, ist das Wort Geschichte mit diesem Verständnis besetzt und so zum Begriff geworden, geht es in Geschichte darum, diese Wirklichkeit zeitlicher Abläufe betrachtend zu erkennen. Freilich lässt sich die Wirklichkeit des Vergangenen nicht wie die des Gegenwärtigen betrachtend erkennen. In der zeitlichen Kontinuität und im Werden und Vergehen aller Ereignisse und Dinge sind ihre Gegenwart Teil ihrer Vergangenheit und auch ihrer Zukunft. Das ist dem tätigen Menschen als Wirklichkeit feststellbar und von ihm zu allen Zeiten festgestellt worden. Das gilt ebenso für die Geschichte der Menschen, deren vergangene Wirklichkeit auch in der Gegenwart für sie feststellbar ist. Diese Feststellung ist kein Gedankenkonstrukt, keine Auffassung, sondern Ausdruck erkannter Wirklichkeit.

 

Geht es also um die Geschichte der Menschen, so ist auch heute im Gegenwärtigen die Wirklichkeit ihrer Vergangenheit feststellbar. Nichts anderes zu diesem Feststellbarem hat Marx in „Die deutsche Ideologie“ damit geäußert, dass „Die Menschen imstande sein müssen zu leben, um `Geschichte machen` zu können“, um überhaupt als Geschichte, als Vergangenes, feststellbar zu werden, was der Mensch eben nur lebendig kann. Und Leben kann er nur, wenn er alle zu seiner Lebensreproduktion notwendigen Bedingungen und Mittel erlangt und sichert. Das ist ebenfalls kein Gedankenkonstrukt, oder eine bloße Auffassung. Das ist schon immer Wirklichkeit, seit es Menschen gibt, ob sie festgestellt wird oder nicht. Und sie ist deshalb eine in der Gegenwart auch feststellbare Wirklichkeit der Vergangenheit.

 

Diese feststellbare und festgestellte Wirklichkeit ist deshalb auch keine „materialistische Geschichtsauffassung“, als wäre sie eine Auffassung unter anderen zu Geschichte. Mit der Bezeichnung „materialistische Geschichtsauffassung“ des von Marx Geäußertem zur Wirklichkeit menschlichen Lebens wird bewusst nicht nur diese Wirklichkeit, sondern auch der logische Schluss daraus ignoriert, dass alle Geschichte der Menschen auf dieses Erlangen und Sichern der für ihre Lebensreproduktion notwendigen Bedingungen und Mittel basiert. „Das Erste also bei aller geschichtlichen Auffassung ist, dass man diese Grundtatsache in ihrer ganzen Bedeutung und in ihrer ganzen Ausdehnung beobachtet und zu ihrem Recht kommen lässt.“

 

Marx ist also weder Geschichtsphilosoph noch Vertreter einer bestimmten Geschichtsauffassung. Er hat die Möglichkeit aufgezeigt, Geschichte als Wissenschaft zu verstehen und wissenschaftlich zu nutzen. Ohne philosophische Interpretation. Ohne Geschichtsphilosophie. Und Geschichtsphilosophie kommt auch ohne Marx aus. Es sei denn: mit ihr ist eine Möglichkeit gegeben, auf Marx, an ideologischen Scheuklappen vorbei, einen wissenschaftlichen Blick zu lenken.

 

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